Artikel NZZ

Burnout wird zum Kostenfaktor: «Männer kollabieren in meinem Büro», sagt eine Headhunterin

Psychische Probleme der Mitarbeitenden führen zu teuren Absenzen. Unternehmen sollten im eigenen Interesse ein Umfeld schaffen, in dem Menschen nachhaltig leistungsfähig bleiben.

Sind die Schweizer Jammerlappen geworden, die nach Work-Life-Balance gieren und beim geringsten Gegenwind psychisch schwächeln?

Gemäss einer neuen Studie der AXA kämpft über ein Viertel der Schweizer Bevölkerung mit psychischen Problemen. In Deutschland gaben sogar 34 Prozent der Befragten an, unter Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen zu leiden.

Psychische Probleme scheinen bei der Arbeit jedenfalls zunehmend zu belasten. Das hat Folgen für die Performance von Unternehmen und der Wirtschaft als Ganzes.

Eine bakterielle Angina ist besser als ein Burnout

Das Thema Arbeitsgesundheit beschäftigt auch Nathalie Agosti und Claire Garwacki. Garwacki ist Headhunterin und vermittelt Führungskräfte, Agosti hat ein Unternehmen für Strategie- und Kommunikationsberatung. In ihrem Arbeitsalltag beobachten die beiden, dass das Thema Erschöpfung für viele Menschen sehr gegenwärtig ist.

«Mein Büro ist direkt über einer Arztpraxis. Ich sehe, wie die Leute rein- und rausgehen», berichtet Garwacki. Einer der Ärzte habe ihr gesagt, dass viele Patienten erschöpft in die Sprechstunde kämen. Sie würden jedoch nicht wagen, dies gegenüber ihrem Arbeitgeber zuzugeben. Der Arzt schreibe sie häufig für zwei Wochen krank. Werde nachgefragt, empfiehlt er, von einer bakteriellen Angina zu sprechen. Diese dauert zwei Wochen, gibt den Betroffenen Zeit und erregt keinen Verdacht.

Es gebe einen riesigen Unterschied, ob man sich ein Bein breche oder eine psychische Belastung habe, sagt die Unternehmerin Agosti. Bei einem Beinbruch bekomme man Genesungswünsche und Blumen. Bei einer psychischen Krankheit regiere das Misstrauen. Das Umfeld gehe schnell davon aus, dass jemand nicht belastbar und dem Job nicht gewachsen sei.

Die Ausfälle von Mitarbeitenden aus psychischen Gründen gehen gemäss der Axa mittlerweile richtig ins Geld. Die Sammelstiftungen des Versicherers bilden 44 Prozent der Rückstellungen für neue IV-Fälle für psychisch bedingte Krankheiten. Dabei sind vermehrt Jüngere betroffen.

Die Versicherung zahlt dann bis zur Rente; entsprechend hoch sind die Kosten. «Dieser Trend beunruhigt uns sehr», sagt Jürgen Scharfetter, Leiter Berufliche Vorsorge bei der Axa. Auch beim Krankentaggeld würden die Schadenleistungen extrem ansteigen. Setzt sich der Trend fort, sind höhere Prämien unausweichlich.

Wie weit die Bemühungen Einzelner gehen können, sich nichts anmerken zu lassen, illustriert die Headhunterin Garwacki am Beispiel eines Klienten. Bei einem Video-Interview mit einem Finanzexperten habe sie etwas Eigentümliches in dessen Mimik und im Hintergrund bemerkt. Darauf angesprochen, erklärte der Mann, dass er sich seit einigen Wochen nicht mehr richtig bewegen könne. Er mache den Call aus dem Bett, erklärte er. Den Bildschirm hatte er über dem Kopf aufgehängt. Garwacki traute ihren Ohren nicht.

Jedes zweite Burnout führt zu einer Kündigung

Die Angestellten haben gute Gründe, ihre Stresssituation zu verbergen. Schliesslich führt jedes zweite Burnout gemäss einer Auswertung des Krankenversicherers Swica zu einer Kündigung. Das ist genau das, was viele Betroffene vermeiden wollen.

Denn: «Wer nicht mehr zur Arbeit geht, verliert Struktur, Anerkennung und soziales Umfeld. Unter Umständen ist er am Ende noch schlechter dran», sagt Achim Elfering, Professor am Institut für Psychologie der Universität Bern.

Arbeit macht in den meisten Fällen nicht krank, sondern hilft den Menschen sowohl psychisch als auch sozial. «Wenn wir einer gut gestalteten Arbeit nachgehen, erleben wir uns als kompetent, feiern Erfolge, lernen Menschen kennen und bekommen Anerkennung», erklärt Elfering. Oder, wie es der Philosoph Friedrich Nietzsche sagte: Ein Beruf ist das Rückgrat des Lebens.

Arbeitslose sind nicht glücklicher, im Gegenteil.

Garwacki und Agosti plädieren dafür, dass der Erhalt der psychischen Gesundheit ein Teil der Unternehmensstrategie wird. Dazu zählt ein gesundes Arbeitsklima, eine gute Fehlerkultur und ein Umfeld, in dem die Menschen langfristig gesund und leistungsfähig bleiben. In schwierigen Situationen gibt es einige Schrauben, an denen sich drehen lässt.

So kann das Pensum reduziert werden. Anforderungen und Aufgaben können geändert werden. Im Idealfall kann so eine entstehende Krankheit behandelt werden, bevor sie chronisch wird.

So hat etwa die Axa ein Programm, in dem Case-Manager nach Lösungen suchen, damit Betroffene nicht aus dem Beruf herausfallen, sondern im Arbeitsleben bleiben. Das ist gut für die Betroffenen und spart langfristig Kosten.

Allerdings hat das Engagement der Firmen auch Grenzen. Psychische Krankheiten wie ein Burnout, Depressionen oder Angststörungen haben neben der beruflichen Komponente auch persönliche Anteile. Für die Lösung privater Probleme kann der Arbeitgeber nicht zuständig sein.

Weil Agosti und Garwacki beobachten, dass viele Firmen nicht wissen, wie sie mit dem Thema umgehen sollen, haben sie eine Kampagne initiiert. «Die Kosten des Schweigens» heisst sie und läuft derzeit auf Linkedin, Tiktok, Youtube und Instagram. In einem dreiminütigen Video kommentieren CEO von Schweizer Firmen reale Erlebnisse aus dem Arbeitsalltag.

Einhundert CEO hatten die Macherinnen angeschrieben. Doch nur elf waren bereit, mitzumachen. «Wir haben grössere Probleme», lautete eine häufige Begründung für die Absage. Es gebe eine globale Krise. Die Leute sollten aufhören, sich zu beschweren. Die Schweiz sei verwöhnt, bekamen die Initiantinnen zu hören.

Fakt ist aber auch: In der Schweiz war bereits im Jahr 2023 jede sechste Person gemäss eigenen Angaben aufgrund psychischer Probleme der Arbeit ferngeblieben. Fast ein Drittel der Arbeitstätigen war laut eigener Aussage in der Vergangenheit bereits einmal von einem Burnout betroffen.

In Deutschland war mehr als ein Viertel der Arbeitnehmer gemäss der Axa-Umfrage im vergangenen Jahr mindestens einmal aufgrund von mentalen Problemen krankgeschrieben.

Die Mehrheit der Bevölkerung fühlt sich stabil und gesund

Dennoch geht es der Mehrheit der Bevölkerung gut. Gemäss dem Schweizer Job-Stress-Index, der von der Universität Bern erhoben wird, bewegen sich zwei Drittel der Mitarbeitenden im grünen Bereich. Die Zufriedenheit mit der eigenen Gesundheit wird gemäss dem Präventionsmonitor von der Basler Pharmafirma Doetsch Grether für die Schweiz mit 7,3 von 10 Punkten bewertet. Der Anteil der psychisch Belasteten ist laut der Axa-Studie in der Schweiz geringer als in den meisten anderen Ländern.

Trotzdem fühlen sich etwas mehr als 30 Prozent gemäss dem Report emotional erschöpft. In diesem Zustand funktionieren die Menschen im Job und sind im Arbeitsprozess eingebunden. Dennoch gilt die emotionale Erschöpfung als Warnzeichen. Sie kann einem Burnout vorauslaufen. Aus einem solchen entstehen für die Unternehmen häufig kostspielige Langzeitabsenzen.

Lieber Krebs als psychische Probleme

Betroffen sind nicht nur einfache Angestellte, sondern auch Führungskräfte. Es sei ein Irrglaube, dass Letztere ihre Belastung und Psyche besser im Griff hätten, sagt Garwacki und bringt das Beispiel einer Führungskraft aus der Konsumgüterindustrie. Diese habe ihr erklärt, dass es ihr selbst mental gut gehe, viele ihrer Mitarbeiter aber über hohen Druck klagen würden.

Nach etwas Alkohol bei einem Apéro erzählte sie, dass vor kurzem ein Knötchen in ihrer Brust gefunden wurde, das sich aber als harmlos herausgestellt habe. Dann kippte die Situation. Sie wünschte, gestand die Frau plötzlich, sie hätte Krebs. Das wäre wenigstens ein guter Grund, um offiziell eine Auszeit zu nehmen.

«Das war dieselbe Person, die mir 15 Minuten vorher noch versichert hatte, dass es ihr gut gehe», sagt Garwacki. Viele Menschen nähmen die Symptome nicht oder erst sehr spät wahr, wenn sie bereits an einem schwierigen Punkt angekommen seien.

Männer können weniger in die Kinderbetreuung ausweichen

Unter Druck stünden auch Leute, denen man dies nicht ansehen würde. «Männer kollabieren in meinem Büro», sagt die Headhunterin Garwacki. Mehr als einmal habe sie ein Klient angefleht: «Claire, finde mir einen Job mit weniger Druck, ich halte es nicht mehr aus.» Das seien leistungsorientierte Menschen, alles andere als Faulenzer, sagt die Headhunterin.

Lange Zeit habe man gesagt, dass vor allem Frauen unter Stress und Doppelbelastung leiden würden, stellt Agosti fest. Doch Frauen könnten immer noch ein «Opting out» machen und mehr zu den Kindern schauen. Für Männer sei das nur selten eine Option und sozial weniger akzeptiert. Die gute Nachricht dabei ist: Wer eine Krise nutzt, um einen besseren Umgang mit inneren oder äusseren Stressoren zu finden, kann gestärkt daraus hervorgehen.